Freitag, 28. Januar 2005

Der Freitagskommentar

Es ist soweit. Die Finger sind warm geschrieben, die Liste der Leute, die on sind im ICQ, wird jede Minute länger, und der, mit dem du beim letzten Mal einige nette Sätze gewechselt hast, ist auch mit dabei. "CrazyRome" klingt nett. Und fiel nicht gleich wie "LatinLover" mit der Tür ins Haus: "Willst du 'nen Dirty Talk?". Du hast nicht viel Umstände gemacht mit diesem Herrn: "Nö, danke! Ich will das Menü und nicht den Hamburger."
Immer mehr Namen tauchen auf, du entscheidest dich für "CrazyRome". Er soll seine Chance bekommen. Aha. Er will. Ja. Es geht ihm gut, er hat Zeit. Und Lust.

Du möchtest mit ihm über Sex reden. Guten Cybersex haben. Nicht mehr. Nicht weniger. Cybersex ist aktiv und interaktiv, im Gegensatz zur Pornografie. Pornografie ist passives Entertainment. Cybersex braucht ein virtuelles Du, ein Gegenüber, das sich hoffentlich nicht als Dialogprogramm entpuppt. Wenn der Dialog mehr ist als die bloße Aneinderreihung von "Ahhhhhs", "Ohhhhhhs" und einem "Ja Baby. Zeig's mir!", ist dieses allerdings ziemlich unwahrscheinlich.
Guter Cybersex heißt, eine gemeinsame (Sex-)geschichte zu erzählen, sich einen eigenen Cyberspace zu schaffen, der angefüllt ist mit Emotion, Kommunikation und Imagination.
Aaron Ben-Ze'ev, israelischer Philosphie-Professor und Autor des Buches ""Love Online: Emotions on the Internet", ist sogar der Ansicht, dass Cybersex wesentlich stärker sein kann als das, was wir offline erleben. "Sex is about the brain, isn't it?". Vielleicht trifft hier das Wort von der Macht der Imagination die Situation am besten. In schneller Abfolge laufen im Chat die Sätze über meinen Bildschirm und innerhalb weniger Minuten erschaffen wir beide aufgrund der eigenen Unsichtbarkeit einen Raum mit einer Intimität, die offener und schamloser sein kann als reale Situationen.

Natürlich benutze ich dabei mein virtuelles Du als Projektionsfläche meiner Begierde, meiner Wünsche und Vorstellungen. Das jedoch ist für mich auch ein entscheidender Unterschied zur Pornografie. Im Cybersex sind es beide, die sich als Objekt für den anderen zur Verfügung stellen. Das kann auf verschiedene Art und Weise geschehen. Betrachte ich mein virtuelles Du als Spiegelfläche meiner Projektionen, habe ich sozusagen Sex mit mir selbst? Oder will ich die Fremdheit zwischen uns überwinden, die ich in der Kommunikation mit meinem virtuellen Du erfahre? Eine Fremdheit, die ich erlebe, weil ich 'Dich' in Deinem Anderssein mir gegenüber wahrgenommen habe.

Im realen Leben sind die Möglichkeiten der Projektion aus naheliegenden Gründen eingeschränkt. Dennoch helfen auch dort manchmal die Bilder im Kopf, wenn der Kandidat unter/über/neben uns nicht ganz den eigenen Vorstellungen entspricht. Gab es da nicht diesen Film mit Robert de Niro ...
Und? Wie ist es? Es gefällt dir? Schön. Dann schmeckt dir jetzt hoffentlich das Dessert mit Erdbeeren und Sahne.

Im ICQ wartet dein virtuelles Du. "CrazyRome" behauptet, er ist 16. Puh! Glück gehabt. Obwohl virtueller Sex im Internet mit Jugendlichen ja noch nicht strafbar ist. Es kann losgehen. Let's talk about Sex. Die ersten drei Sätze sind vollbracht, die Spannung steigt. "Crazy Rome" wird konkret.

"Hast du Lust auf mehr?"

"Aber gerne doch. Moment, ich suche mir nur gerade eine etwas bequemere Position, meine Jeans stört etwas und die CD im CD-Player ist die falsche. Ich leg' schnell eine andere ein."

"O.K. Ich warte."

...

"So, bin wieder da, Süßer. Hmmh. Mal sehen. Wir beide sind gerade in der Küche. Da steht ein alter, schwerer Holztisch in der Mitte. Ich stelle mich vor diesen Tisch. Du kommst näher, hebst mich langsam auf die Platte des Tisches. Küsst mich. Berührst mit deiner Hand ganz leicht meinen Bauch. Öffnest meine Schenkel ...
Was möchtest du jetzt tun?"

...

"..."

"Hallo? Noch da?"

"Ja."

"Und?"

"Is geil, mach weiter"


Nun ja. Das ist jetzt genau die Stelle, an der du dir wünschst, du hättest doch lieber eine schöne Geschichte ins Blog geschrieben. Und die Kommentar-Funktion geöffnet. Es ist schlicht kein Gefühl von Nähe, das hier entsteht. Nähe, die sich aus einem Dialog entwickelt. Im besten Fall bist du jetzt das Streichholz, das er entzündet. Du bist es, die brennt. Doch wer will schon die Fackel in der Hand eines Unbekannten sein? Du willst es? Schön. Dann hast du die richtige Spielwiese gefunden. Für mich ist es eher wie dauerhafter Sex mit sich selbst. Ganz nett. Mehr nicht.

Erotik entsteht für mich erst, wenn mein Gegenüber erfahrbar ist, wenn sich durch Kommunikation Nähe entfalten kann. Und damit stehe ich nicht alleine da. In den Diskussionen auf einer amerikanischen Mailingliste waren es die Frauen, die sich über schlechte bzw. fehlende Kommunikation beklagten. Die Sprache in den Chats erinnert immer mehr an Kinder, die nicht abwarten können und wollen, die Sätze sind zerhackt bis ins Unverständliche, alles ist nur auf das eine Ziel ausgerichtet: der schnelle und unmittelbare Kick! Sonst nichts. Erotik hingegen braucht Zeit. Genuß braucht Zeit. Alles andere ist virtueller Fastfood. Genuß für die, die (noch?) keine verfeinerten Geschmacksknospen entwickelt haben.

Vielleicht liegt hierin auch der wesentliche Unterschied zwischen Blog und Chatroom. Ein Blog wird nicht nur für den Moment geschaffen. Es ist nicht der Raum für die flüchtige Begegnung, auch wenn die Suche nach dem schnellen Freitagabend-Date durchaus erfolgreich sein kann. Es ein Ort, der gebildet wird von jemanden, der dort länger bleiben möchte. Dieser Ort ist etwas, das irgendwo zwischen der flüchtigen virtuellen Welt der Chatrooms und der realen Welt außerhalb des Netzes angesiedelt ist. Es gibt viele Motive, ein Blog zu betreiben. Einer davon ist, nette Leute kennenzulernen. Oder mit Hilfe von Blog und ICQ Online-Sex zu haben. Der ist mittlerweile so selbstverständlich geworden wie das Schreiben von E-Mails.

Doch wo Genuß ist, ist auch der Hinweis auf die Suchtgefahr nicht fern. Die Dokumentarfilmer Melanie Wood und Nick Orchard weisen in ihrem Film "O.Com: Cybersex Addiction" darauf hin, dass in den USA 8 Millionen Amerikaner mehr als 11 Stunden pro Woche am Bildschirm auf der Suche nach Sex online verbringen. Die psychologische Schlußfolgerung, dass jemand süchtig ist, der mehrere Stunden in der Woche mit Online-Sex verbringt, wird begründet mit dem Eskapismus-Argument. Soll heißen: Die Realität ist so schlimm, dass man statt der Erfahrung in der sogenannten realen Welt lieber in die irrealen Welten des Cyberspace flüchtet. Dieser Ansatz baut auf der Vorstellung auf, dass es ein Sein in der nichtvirtuellen Welt gibt, an dem frau und mann sich zu orientieren hat. Nimm das, was da ist! Doch es gibt noch einen anderen Ansatz, den ich bereits in einem meiner vorigen Freitagskommentare erwähnte. Mit Hilfe meiner Kreativität, der Fähigkeit zur Vorstellung von (zukünftigem) Sein gestalte ich eine eigene Welt in meinem Blog, lade andere ein, daran teilzuhaben und entwickele alleine oder gemeinsam mit anderen daraus Schritt für Schritt eine Situation, die übertragbar ist auf die nichtvirtuelle Welt. Und ehe ich es vergesse: All' das geschieht selbstverständlich unter strenger Beachtung demokratischer Grundsätze und derzeit geltender Ideologien. Weder rufe ich in meinem Blog auf zu (sexueller) Anarchie, verführe andere zu Dingen, die sie nicht wollen oder verstehe Blogs gar als Konkurrenz zu dem florierenden Markt kostenpflichtiger Online-Kontaktbörsen.

Für viele Menschen ist das Netz eine gute Gelegenheit geworden, andere zu treffen. Die Seite von Wildxangel sammelt Informationen und Stories zu diesem Thema. Wildxangel selber schreibt zu der Möglichkeit, jemanden im virtuellen Raum kennenzulernen:

"It's not the despair. I can stand the despair... It's the Hope.
...I met my husband through the internet, though I didn't fall in love with him there. I'm too cynical for that. But not so long ago anything was possible. The Internet was a wealth of friends, a social life that a single mother in a rural area could have."

Das Netz ist Risiko. Und Reiz. Es ist der Reiz des Neuen, den du aus der Offline-Welt kennst. Und es ist zugleich etwas anderes. Etwas, das du nicht immer überblicken kannst. Und willst. Ich weiß nicht, wie es dir geht. Ich mag dieses Unbekannte sehr. Wenn es dir genauso geht, dann schau' dir an, was passiert. Laß' dir Geschichten erzählen. Solche wie diese überaus prickelnde Geschichte vom Bären zum Beispiel. Oder die Fahrt auf dem Highway. Und die Geschichte vom Drachen. Ich genieße es sehr, mir aus dieser bunten Welt etwas auszusuchen und knüpfe den Faden meiner Erzählungen an diesen Geschichten an. Für jeden von uns gibt es irgendwo eine Idee und einen Gedanken, den wir aufgreifen können.

...

Aufgrund eines technischen Problems und eines Mißverständnisses, das ich nun einvernehmlich mit den Leuten von twoday.net geklärt habe, sind in den letzten Tagen keine Kommentare erschienen. Elektra hat stattdessen ein wenig hinter den Vorhang des Himmel- und Höllenspiels geblickt und Bloxbaby einen kurzen Kommentar über die Siebziger geschrieben.

Nun kann ich beruhigt in die Kiste mit den CD's greifen und darauf warten, bis die richtige Stimmung für den Freitagskommentar aufkommt. Also: Bis nachher :-)

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Astrid Haarland M.A. Politologin - Soziale Kunst- und Ausstellungsmacherin - Commander/ISLA - a.haarland(at)googlemail.com - Choose safe communication ... ;-)

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