Die weiblichen Mysterien und der Gral
... In den meisten Bibliotheken finden wir unter diesem Stichwort alle möglichen Bücher, selbst Krimis. Im spirituellen Kontext ist ein Mysterium eine religiöse Wahrheit, die man nur durch eine Offenbarung erlebt. Das Wort stammt vom griechischen Wort mystes ab, das schon zweitausend Jahre vor Christi Geburt mit Eleusis in Verbindung stand, dem heiligen Ritual um die Muttergottheit Demeter und ihre Tochter Persephone. Der Initiierte, der mystes (sowohl Männer als auch Frauen), erlebte eine grundsätzlich transformierende Erfahrung, die man geheimhalten mußte. Dieses Geheimnis wurde bis weit in die christliche Ära gewahrt. Man praktizierte die Riten bis ins Jahr 396 nach Christi Geburt.
Man kann sich bekanntlich kaum jemals darauf verlassen, daß jemand ein Geheimnis bewahrt, doch dieses wurde niemals verraten. Daher könnte es sein, daß es sich um ein Geheimnis handelte, das nicht durch Worte weitergegeben werden konnte. Das Mysterium muß die Erfahrung selbst gewesen sein, eine unbeschreibliche Offenbarung, die den Teilnehmer in einen Initiierten verwandelte, welcher Berichten zufolge keine Angst vor dem Tode mehr hatte.
Wir wissen, daß der Mythos um Demeter und Persephone die Wieder-vereinigung der Muttergottheit mit ihrer Tochter feiert, die durch Hades in die Unterwelt entführt worden war. Wir können davon ausgehen, daß die Mutter-Tochter-Beziehung in den Eleusinischen Mysterien wie in der Vater-Sohn-Religion des Christentums mit Tod und Wiederkehr zu tun hatte - als Wiederauferstehung, Wiedergeburt oder Wiedervereinigung -, und daß der Initiierte irgendwie das Schicksal der Gottheit teilte, die das Reich des Todes überwand.
Die beiden Mysterien gleichen sich auch in der Verehrung einer Gottheit mit drei Aspekten: Vater, Sohn und Heiliger Geist stellen die christliche männliche Gottesgestalt dar, während die Göttin in ihren drei Aspekten als Jungfrau, Mutter und alte Frau verehrt wurde. In Eleusis ähnelte die Alte sogar dem Heiligen Geist, weil sie als Geistergestalt galt. Den Homerischen Hymnen an Demeter zufolge, in denen die Entführung von Persephone geschildert wird, ging nämlich Hekate, das Urbild einer alten Vettel und weisen Frau und Göttin aller Wegkreuzungen, Persephone voraus und folgte ihr auch, als sie aus der Unterwelt wieder auftauchte - das wäre unmöglich, wenn sie nicht ein Geist gewesen wäre.
Initiation
Um psychologisch in ein Mysterium eingeweiht zu werden, müssen wir durch eine entsprechende Erfahrung verändert werden. Wir sind nicht mehr die gleiche Person wie zuvor, denn wir haben etwas erlebt, das uns von denen unterscheidet, die dies nicht erlebt haben. Oft gehört zur Initiation ein Element der Isolierung, etwa, daß man sich einer Angst stellt oder sich einer Mutprobe unterzieht. Doch wohl ebenso häufig erlebt man die initiatorische Erfahrung als einen Akt der Gnade, wenn Mysterium und Schönheit in einem schauervollen Moment verschmelzen und wir daran teilhaben. Der neu Initiierte fühlt sich auf archetypische Weise doppelt neugeboren: Durch die Geburt zum Leben wie auch durch ein Mysterium zu einer neuen Seinsweise, einem neuen Bewußtsein.
Man mag es seltsam finden, daß ich über etwas schreibe, das man nur durch persönliches Erleben kennenlernen kann. Oder können Frauen unbewußt auf heiliges Gebiet vordringen, ohne Worte für diese Erfahrung zu haben? Das, was zutiefst empfunden, aber niemals artikuliert, mitgeteilt oder im Zusammenhang gesehen wurde, schwindet leicht wieder aus dem Bewußtsein. Ohne einen Namen oder ein Wort für eine Erfahrung ist kaum Erinnerung möglich: Es ist ein wenig so, wie wenn es nicht gelingt, Zugang zu Informationen in einem Computer zu erlangen - nur viel komplexer, denn was unbewußt in uns schlummert, beeinflußt dennoch unseren Körper, unsere Beziehungen und unsere Träume. Nur mit Worten, die zu dem passen, was wir zutiefst wissen, ist es möglich, über die Bedeutung einer Erfahrung nachzudenken. Wir brauchen Worte, um uns zu erinnern. Wann immer ich zum Beispiel über die 'Stimmgabelerfahrung' sprach, die ich in der Kathedrale von Chartres tief in der Brust empfand, stellte ich fest, daß ich damit die Tore der Erinnerung und Bedeutungsfindung für andere öffnete.
Ich weiß auch aufgrund meiner früheren Arbeiten über Archetypen, daß es für meine Leser wie ein erster Blick in einen Spiegel ist, wenn sie Worte und Bilder für etwas zur Verfügung gestellt bekommen, was sie bislang nur subjektiv gekannt haben. Es besteht die Möglichkeit, sich selbst und damit die Erinnerung an Ereignisse und Gefühle wiederzufinden. Und wenn diese wiedererinnerte Erfahrung eine heilige Dimension besitzt (was auf die weiblichen Mysterien zutrifft), dann erinnert sich die betroffene Frau vielleicht auch daran, daß sie keine Worte für diese Göttlichkeit in sich hatte, noch für die Göttin, die sich derart ausdrückte, und die Macht oder die Ehrfurcht, mit der sie sich in jenem Moment auf unerklärliche Weise in Kontakt fühlte. Wenn sich solche Ereignisse klären, hat man ein ungeheures Aha-Erlebnis.
Auch wenn das für die Leserin nicht so stattgefunden hat, wenn man keine derartige initiatorische Erfahrung erlebt hat oder ein Mann ist, kann sich beim Lesen über weibliche Mysterien immer noch das intuitive Gefühl einstellen, daß das wahr ist, weil wir uns im Bereich archetypischer Erfahrungen befinden und ein kollektives Unbewußtes teilen. Da die Mysterien der Frauen jedoch körperlichen Charakter haben, herrscht immer ein Unterschied zwischen dem, was eine Frau aufgrund ihrer Phantasie oder von Gehörtem rational erkennt, und der körperlichen Erfahrung selbst.
Das Nachdenken darüber führte mich zum Vergleich mit der abstrakten Vorstellung von der Geburt eines Kindes, die ich in der Gynökologie anhand von Lehrbüchern und Vorlesungen entwickelte, im Gegensatz zur direkten Erfahrung einer gebärenden Frau. Ich habe als Medizinstudentin und Praktikantin Frauen in den Wehen betreut und überwacht, habe untersucht, wie weit sich der Muttermund in Vorbereitung für die Geburt ausdehnte, und schließlich auch hundert Babys entbunden - doch all dies bereitete mich nicht auf die tatsächliche Erfahrung 'am eigenen Leibe' vor, ein Kind zur Welt zu bringen.
Schwangerschaft als Initiation
Für mich war die Schwangerschaft eine initiatorische Erfahrung, die meinen Körper veränderte, mein Bewußtsein verlagerte, mich Unterwerfung lehrte und mir eine Vorahnung davon gab, welche körperlichen, psychologischen und spirituellen Ansprüche und Wohltaten ich als Mutter erleben würde. Viel später gelangte ich zu der Erkenntnis, daß Schwangerschaft und Geburt Erfahrungen sind, die einem lebendigen Mythos und einer archetypischen Erfahrung entsprechen.
Wie die Pubertät war die Schwangerschaft etwas, das ebensosehr mit mir wie in mir geschah. Mein Körper veränderte sich tatsächlich und brauchte zusätzliche Energie. Besonders in den ersten drei Monaten war ich sehr müde und schlief mehr als gewöhnlich. Dann veränderte sich mein Körper, und mein Schwerpunkt verlagerte sich. Als Folge davon geriet ich leichter aus dem Gleichgewicht, stürzte einmal und verletzte mich am Knöchel. Emotional wie körperlich spürte ich eine völlig neue Verletzlichkeit.
Dann geschah etwas mit meiner Psyche, etwas, das ich damals 'biologische Introversion' nannte. Mit meiner Jungschen Orientierung wußte ich ja, was eine gewöhnliche Introversion war. Doch das hier war anders. Ich war eindeutig introvertiert, aber nicht im Kopf: Ich war weder nach innen gekehrt noch überaus nachdenklich. Gedanken und Vorstellungen waren nicht wichtig. Ich fühlte mich vielmehr so, als sei das Zentrum meines Bewußtseins aus dem Kopf herabgesunken und existiere nun irgendwo kurz oberhalb meiner wachsenden Gebärmutter. Das Gefühl des 'Ich' ruhte nun in meinem Bauch. Und dieses Ich war damit zufrieden, so still zu sein wie ein Stein in der Sonne an einem Flußufer. Ich arbeitete fast die ganze Schwangerschaft hindurch, obwohl es mich Mühe kostete, mich aus diesem Zustand des einfachen Seins herauszuheben und im Büro zu sitzen, wo ich Herz und Verstand einsetzen mußte, um zu denken, anzuregen und mit anderen zu kommunizieren.
Dieser Sog nach innen während der Schwangerschaft schien Ähnlichkeit mit dem zu haben, was in Sterbenden geschieht, die besonders kurz vor dem Ende, wenn es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis der Verfall des Körpers sie in die unbekannte, oft gefürchtete nächste Phase hineinträgt. Wenn sich dieser Zeitpunkt nähert, wird der Interessenkreis immer kleiner, und die Probleme und Geschehnisse in der Außenwelt verlieren an Bedeutung.
Der Tod der alten Gestalt und das neue Leben, die Geburt, sind für Initiationen fundamental. In der Schwangerschaft geschieht dies auf vielen verschiedenen Ebenen, wenn die Frau immer stärker zunimmt. Sie hatte vielleicht vorher einen geschmeidigen, energischen, kräftigen Körper und bekommt nun einen weichen, sinnlichen. Vorher hatte sie die Figur und Züge eines Mädchens, und ihr Aussehen war für sie wichtig. In der Schwangerschaft verändert sie sich für sich und andere in ihrem Archetypus, indem sich ihre Psyche verlagert und ihr mädchenhafter Körper verschwindet. Das Mädchen stirbt symbolisch, damit die schwangere Mutter hervortreten kann.
Im fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft ähnelt sie den Statuen der Göttin. Sie ist die Verkörperung der berühmten schwangeren Venusstatuen, von denen wohl die Venus von Willendorf die bekannteste ist. Diese Göttinnenstatuen, die vor etwa 20 000 bis 25 000 Jahren entstanden, haben schwere, nach unten spitz zulaufende Beine, damit man sie leicht in Erde stecken kann.
Der Archäologin Marija Gimbutas zufolge zeigen 'präindustrielle Ackerbaurituale eine deutliche, mystische Verbindung zwischen der Fruchtbarkeit der Erde und der schöpferischen Kraft der Frau'. Diese Verbindung schält sich langsam wieder heraus. Ein mystisches Bewußtsein, das mit dem Körper der Frau und deren Verbundenheit mit Gaia, der lebendigen Erde, zu tun hat, wird den Frauen immer klarer. (Das intellektuelle Verständnis, daß wir ebensosehr Teil von Gaia sind wie die Flüsse und Bäume, das James Lovelock als 'Gaia-Hypothese' bezeichnete, ist eine rationale Wahrnehmung. Ich spreche hier von weiblichen Mysterien, die durch den Körper erfahren werden.)
Als ich die ersten Regungen im Uterus spürte und genau wußte, daß dies mein Baby ist, lächelte ich spontan und voller Staunen. Es war eine ursprüngliche, körperliche Erkenntnis, die bestätigte, daß tatsächlich ein Kind in mir wuchs. Für mich war das alles ein Wunder, aber schwanger zu sein gilt als sehr normal, und die ersten Regungen gehören einfach dazu.
Das Patriarchat kennt keine Rituale, mit denen solche Wunder gefeiert werden - wenn Männer aber schwanger würden, wäre die Fähigkeit, Kinder zu gebären, mit Sicherheit für sie ein Beweis der angeborenen Überlegenheit ihres Geschlechts. Die Schwangerschaft würde den Beginn eines größeren Übergangsrituals für den individuellen Mann bedeuten und gefeiert. Und wenn wundersamerweise nun ein einziger Mann schwanger würde, betrachtete man dies und die Geburt als so bahnbrechend wie die ersten Schritte auf dem Mond.
Diese Vorstellung enspringt meiner Überzeugung, daß das Patriarchat alles entwertet, was Frauen natürlich und instinktiv tun. Dahinter steht der männliche Gott und der Gedanke, daß der Mensch nach seinem Abbild geschaffen ist. Doch Tausende von Jahren vor der Bibel, Zeus und den Olympiern verehrten die Menschen die Göttin. Wenn ich daher spekuliere, wie eine Schwangerschaft erlebt würde, falls Leistungen von Frauen allgemein anerkannt würden, denke ich an meine erste Schwangerschaft und die ersten Kindsbewegungen zurück. Dann erinnere ich mich auch, wie es sich anfühlte, als mein Körper zum ersten Mal auf die Energie einer heiligen Stätte reagierte. Ich erinnere mich daran, daß Pilgerfahren stets unternommen wurden, um 'göttliche Regungen' zu spüren. Ich weiß aufgrund dieser Erinnerung intuitiv, daß diese Erweckung als fundamentales religiöses Erlebnis gewertet würde, wenn die Göttin nicht aus unserem Bewußtsein verbannt worden wäre. Eine schwangere Frau würde wissen, daß sie essentieller Bestandteil der Göttin als Schöpferin ist, die alles Leben in ihrem Körper erzeugte. Das Gefühl der eigenen Göttlichkeit würde mit ihrem Gefühl für das Leben zusammenfallen, das sich in ihrem Schoß regt. In diesem Moment würde sie es wissen und sagen: "Die Muttergöttin und ich sind eins."
Meine beiden Kinder wurden Anfang der siebziger Jahre geboren, als die protestantische Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist alles war, was ich kannte, noch ehe ich eine Ahnung von der spirituellen Dimension des Weiblichen hatte. Und trotzdem war ich mir damals, als ich die ersten Kindsregungen in mir spürte, verschwommen bewußt, daß es damit zu tun hatte, ein heiliges Gefäß zu sein. Ich wußte nur keine Worte dafür. Da meiner ersten erfolgreichen Schwangerschaft drei Fehlgeburten vorausgegangen waren, nahm ich nichts mehr als selbstverständlich hin.
Wenn Demeter, Archetyp der Mutter, Seele, Körper und Geist der Frau beherrscht und sie nicht durch körperlichen oder emotionalen Mißbrauch entehrt wurde, passen die Worte des Rosenkranzes, die an die Jungfrau Maria gerichtet sind:
'Ich bin gesegnet unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht meines Leibes', zu dieser Erfahrung - obwohl die Umstände für eine Frau einen großen Unterschied ausmachen könnten, wie sie sich in der Schwangerschaft fühlt.
Diese Worte drücken sehr gut das mystische Bewußtsein aus, das in einer Frau in dem Offenbarungsaugenblick entsteht, wenn sie weiß, daß sie und die Göttin eins sind. Die Schwangerschaft ist der Kahn, der die Frau durch die Nebel von Avalon ins Reich der Göttin trägt.
Wehen und Geburt
Mein Mann und ich hatten zur Geburtsvorbereitung Kurse über natürliche Geburt besucht, einen Film gesehen und Bücher gelesen. Als sich der Entbindungstermin näherte, wartete ich auf das Einsetzen der Wehen wie auf den Beginn einer Expedition oder wie auf meinen ersten Tag an der medizinischen Fakultät:
Mir war zwar völlig neu, was mir bevorstand, aber es weckte meinen Ehrgeiz, und ich beabsichtigte, es gut zu machen.
Ich hatte immerhin akademische Ehren erlangt, Babys entbunden und mein Studium und die Praktikantenzeit erfolgreich hinter mich gebracht. Mit dreiunddreißig Jahren war ich auch kein junger Hüpfer mehr. Unbewußt hatte ich wohl auch Angst, ließ sie aber nicht zu. Meine größte Sorge galt der Gesundheit des Babys. Ich dachte an die Möglichkeit von Komplikationen: Solche Dinge können immer passieren. Viele Frauen empfinden eine tiefsitzende Angst vor dem, was eigentlich jeder weiß: daß im Kindbett auch schreckliche Schmerzen und Tod möglich sind. Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf; bei den Griechen beteten die Frauen in dieser Situation zu Artemis und baten sie um Gnade - entweder für eine schnelle Geburt oder einen raschen Tod.
Die Wehen begannen am frühen Abend und wurden im Verlauf der nächsten Stunden immer stärker und regelmäßiger. Die ersten Stunden waren nicht sehr schlimm, und es fiel mir leicht, die Atemübungen zu machen, die wir im Geburtsvorbereitungskurs gelernt hatten. Eigentlich war es ganz leicht, und das wirkte sehr beruhigend auf mich. Als es Zeit war, ins Krankenhaus zu fahren, fühlte ich mich wie beim Aufbruch zu einem Abenteuer, zu dem ich die Tasche gepackt hatte.
Mein Gynäkologe arbeitete in einer Gemeinschaftspraxis, die zu den ersten in San Francisco gehörte, die Väter bei der Geburt zuließen. Ich war also nicht allein. Es waren meinem Mann und mir bekannte Ärzte da, mir zu helfen, und selbst das Krankenhaus war mir vertraut.
Doch dann wurde es alles andere als vertraut. Mir erging es wie der sumerischen Göttin Inanna, die sich freiwillig entschließt, ihre Schwestergöttin in der Unterwelt zu besuchen, und feststellt, daß sie mehrere Tore durchschreiten und sich bei jedem von etwas trennen muß, das zu ihrer Identität gehört. Das erste Tor war die Aufnahme im Krankenhaus, wo die Patienten ihre Wertsachen und Papiere abgeben. Beim nächsten Tor gibt sie ihre Kleider ab, und man reicht ihr ein Gewand, unter dem sie nackt ist. Hier nahm man mir auch meine priviligierte Stellung als Ärztin. Beim dritten Tor begab ich mich auf die Wehenstation, wo ich mich für die interne Untersuchung auf den Rücken legte: So wurde in regelmäßigen Abständen geprüft, wie weit mein Muttermund sich geöffnet hatte, um abzuschätzen, wie lange es noch dauern würde. Mit zunehmender Wehenstärke verlor ich immer mehr die Kontrolle über mich. Ich fühlte mich, als sei ich in einem veränderten Bewußtseinszustand in die Unterwelt geraten. Die Schmerzwellen erreichten ihren Höhepunkt und wichen zurück, aber jede Welle war länger und intensiver als die vorherige, und die Pausen zum Ausruhen wurde immer kürzer.
Es war schwere, schmerzhafte, körperliche Arbeit, immer näher auf ein Crescendo hin, das immer unerträglicher schien. Die Schmerzen waren so schlimm, daß ich in den Intervallen dazwischen große Angst vor der nächsten Wehe empfand. Dann gab man mir eine Serie von Spritzen mit novocainähnlichen Betäubungsmittel, das den Zervixbereich unempfindlich und den Schmerz erträglicher macht. Irgendwann danach - ich habe keine Ahnung mehr, wann - wurde ich durch ein weiteres Tor in den Kreißsaal geschoben.
Mann nennt die Phase kurz vor der eigentlichen Entbindung, wenn die Wehen am längsten und schmerzhaftesten sind, das 'Übergangsstadium'. Jetzt bewegt sich das Baby durch den Muttermund in den verkürzten Geburtskanal unter dem mütterlichen Schambein hervor in die Welt hinein. In dieser Phase ist der Mutter am stärksten nach völliger Kapitulation zumute, weil ihr alles einfach zuviel wird. Es ist die 'Mauer', gegen die der Marathonläufer kurz vor dem Ziel anrennt, eine Situation, in der dem Körper mehr abverlangt wird, als der Verstand rational für möglich hält. Während den Langstreckenläufer reiner Wille vorantreibt, finden diese letzten Wehen jenseits von Willen und Entscheidung statt. Man kann sich nur noch dem Geschehen ergeben. Von der Übergangsphase an setzen sich die Wehen ununterbrochen fort, bis alles vorbei ist und entweder das Baby geboren ist oder die Mutter stirbt.
Es ist eine überaus kritische Phase für Mutter und Kind, wenn das Baby sprichwörtlich durch ein Tor in die nächste Phase tritt. Jetzt ist die Gefahr am größten, daß Mutter und Kind Schaden nehmen. Das ist der Prototyp aller Lebensübergänge: Wenn wir dieses Tor durchschreiten, ist nichts mehr so wie vorher.
Und genauso war es auch. Mit einer allerletzten Preßwehe trat mein Baby durch mich in diese Welt. Ich war selbst zum Tor geworden. Kurz darauf hörte ich einen Schrei; man sagte mir, ich hätte ein Mädchen, und es sei gesund. Man wickelte meine Tochter in ein Tuch und legte sie mir in den Arm, was unmittelbar größte mütterliche Zärtlichkeit und Staunen auslöste, daß diese kleine Person tatsächlich in mir gewachsen war.
Während der Wehen und der eigentlichen Entbindung spielte sich eine Menge ab, und sehr viel teilte sich mir auf unvertraute Weise ohne Worte oder sogar Gedanken mit. Nur ein einziges weiteres Mal, bei der Geburt meines Sohnes sechzehn Monate später, erlebte ich diese Initiation noch einmal. Wieder wurde ich zum Teil des weiblichen Mysteriums, und mir wurde etwas enthüllt, das ich eher als Verwirrung empfinde denn als eine Erleuchtung. Es war ein Abtauchen in die Dunkelheit, ein sich darin Auflösen, auf das Offenbarung folgte. Es steht in völligem Gegensatz zu jenem Momenten der Erleuchtung, dem Sekundenbruchteil einer blitzartigen Erkenntnis, wenn man mit dem Verstand etwas begreift. Das 'Ich', das in der Welt etwas erreicht hatte, war im Kreißsaal nicht anwesend. Es war eine Initiation, durch die ich eine fundamentale Verwandschaft mit allen Frauen der Geschichte empfand, die jemals diese Schmerzen und diese Transformation durchgemacht hatten. Nichts unterschied mich von sämtlichen anderen Frauen in der Welt, die jemals ein Kind geboren hatten.
Die Erfahrung von Wehen und Entbindung bedeutete die Aufnahme in die Frauenbewegung: Die Verwandtschaft mit Frauen, die tiefreichende Schwesternschaft, nahm hier ihren Ausgang. Ich empfand ein mystisches Gefühl des Einsseins mit allen Frauen. Keine meiner bisherigen Leistungen spielte eine Rolle oder hob mich hervor. Meine Individualität bedeutete nichts mehr. In diesem Erlebnis war ich die Frau schlechthin. Es war eine sehr tiefgehende Erfahrung.
Ich könnte mein Medizinstudium und das Übergangsritual der Praktikantenzeit - damals eine der größeren Initiationsprüfungen für Männer - mit der Geburt vergleichen. In vieler Hinsicht war die Geburt eines Kindes schwerer; die Notwendigkeit, sich einfach der Erfahrung zu unterwerfen, war gewiß absoluter. Trotz der wohl günstigsten Umstände, mit meinen Kenntnissen über den Vorgang und die Unterstützung durch meinen Mann, den Arzt und das Pflegepersonal, herrschten dennoch Angst und Schmerzen vor. Dazu kam die Isolierung, weil ich all das allein durchstehen mußte. Mir wurde klar, wie bei Schwangerschaft und Geburt Frauen in aller Welt ein wichtiges Übergangsritual erleben, das als solches weder in der Gesellschaft noch in irgendeiner Religion anerkannt wird. Bei männlichen Übergangsritualen werden die Elemente der Prüfung, des Todesrisikos und der Transformation gespielt (wie etwa bei Ritualen der Verbrüderung und Aufnahmeprüfungen in bestimmte Gruppen. Das gleiche gilt auch für von Anthropologen beschriebene Ureinwohnerrituale; durch solche Riten definiert sich Männlichkeit). Doch was bei einer männlichen Zeremonie nur gespielt wird, ist in der Schwangerschaft Wirklichkeit: Die Wehen sind eine Tortur, es besteht ein echtes Risiko zu sterben, und die Frau wird tatsächlich transformiert.
Im Prozeß dieser Initiation wird aus dem Körper des Mädchens der einer Frau, und sie gebiert neues Leben. Doch all das ist nur der Beginn einer Verpflichtung, denn damit das Kind überlebt und gedeiht, muß die Initiierte die Verantwortung für dieses neue Leben übernehmen. Sie ist zwar nicht allein für die Fortpflanzung der menschlichen Art verantwortlich, aber die menschliche Art überlebt nur, weil einzelne Frauen diese Initiation durchstehen und neues Leben gebären. Die Schwangerschaft war für mich eine tiefe Erfahrung mit heiligen und furchterregenden Augenblicken. Es war ein Übergangsritual und ein Erlebnis, die mich auf immer veränderten.
Rückblickend erkenne ich mich Entsetzen, daß ich während meiner ärztlichen Ausbildung in drei Lehrkrankenhäusern nie die unsensiblen und verunglimpfenden Einstellungen und Praktiken erkannt und angeprangert hatte, die sich gegen Frauen richteten, die sich bei der Entbindung 'schlecht benahmen'. Diese Haltung hatte ich sogar geteilt, obzwar weniger stark ausgeprägt. Ich kann mich an mehrere Vorfälle erinnern:
an die junge Frau, die mit den stärker werdenden Wehen vor Schmerzen und Angst schrie, und zu der ein Gynäkologe sagte:
"Daran hätten Sie denken sollen, als Sie die Beine breit machten!"
Ich erinnere mich an die Verachtung und den Spott des Personals, wenn Frauen die Jungfrau Maria um Hilfe anflehten. Die normal verlaufenden Geburten wurden im Kreißsaal von Medizinstudenten und Praktikanten versorgt, und es war oft ganz deutlich, daß sie hier ein bißchen übten. Doch ich muß hinzufügen, daß das noch besser war als alles, was mir andere Ärzte aus ihrer Ausbildungszeit erzählten. Meine eigene Schwangerschaft überzeugte mich zudem, daß man keine Frau dazu zwingen sollte, dies gegen ihren Willen durchzustehen, besonders, wenn das Kind durch eine Vergewaltigung oder Inzest empfangen wurde - Umstände, die ihren Körper und Seele entwürdigten.
Eine schwangere Frau unterwirft sich dem Prozeß von Schwangerschaft, Wehen und Geburt. Durch diese Erfahrung wird sie in Körper und Seele völlig verwandelt. Doch das Zentrum ist dabei nicht die Frau, sondern das Kind, das sie trägt. Wir freuen uns auf seine Geburt und fragen uns, wie es sein wird. Doch ebenso wichtig wie ein neues Leben ist die Frage, wie die Frau sich daraufhin verändert.
Schwangerschaft ist wie Kreativität. Diese entsteht, wenn man in seine eigenen Tiefen vordringt. Durch den Schaffensprozeß wird die Person verändert - durch kreative Arbeit, die der Seele entspringt und deren Kind ist. Die Erfahrung der Schwangerschaft und der kreative Prozeß mögen durch die schoßähnlichen Labyrinthe symbolisiert sein, die man in Eingangsnähe ritueller Höhlen und auf dem Boden von Kathedralen findet.
Aus:
Jean Shinoda Bolen, Auf der Suche nach Avalon. Eine Frau entdeckt ihre Spiritualität, Hugendubel München 1996
Man kann sich bekanntlich kaum jemals darauf verlassen, daß jemand ein Geheimnis bewahrt, doch dieses wurde niemals verraten. Daher könnte es sein, daß es sich um ein Geheimnis handelte, das nicht durch Worte weitergegeben werden konnte. Das Mysterium muß die Erfahrung selbst gewesen sein, eine unbeschreibliche Offenbarung, die den Teilnehmer in einen Initiierten verwandelte, welcher Berichten zufolge keine Angst vor dem Tode mehr hatte.
Wir wissen, daß der Mythos um Demeter und Persephone die Wieder-vereinigung der Muttergottheit mit ihrer Tochter feiert, die durch Hades in die Unterwelt entführt worden war. Wir können davon ausgehen, daß die Mutter-Tochter-Beziehung in den Eleusinischen Mysterien wie in der Vater-Sohn-Religion des Christentums mit Tod und Wiederkehr zu tun hatte - als Wiederauferstehung, Wiedergeburt oder Wiedervereinigung -, und daß der Initiierte irgendwie das Schicksal der Gottheit teilte, die das Reich des Todes überwand.
Die beiden Mysterien gleichen sich auch in der Verehrung einer Gottheit mit drei Aspekten: Vater, Sohn und Heiliger Geist stellen die christliche männliche Gottesgestalt dar, während die Göttin in ihren drei Aspekten als Jungfrau, Mutter und alte Frau verehrt wurde. In Eleusis ähnelte die Alte sogar dem Heiligen Geist, weil sie als Geistergestalt galt. Den Homerischen Hymnen an Demeter zufolge, in denen die Entführung von Persephone geschildert wird, ging nämlich Hekate, das Urbild einer alten Vettel und weisen Frau und Göttin aller Wegkreuzungen, Persephone voraus und folgte ihr auch, als sie aus der Unterwelt wieder auftauchte - das wäre unmöglich, wenn sie nicht ein Geist gewesen wäre.
Initiation
Um psychologisch in ein Mysterium eingeweiht zu werden, müssen wir durch eine entsprechende Erfahrung verändert werden. Wir sind nicht mehr die gleiche Person wie zuvor, denn wir haben etwas erlebt, das uns von denen unterscheidet, die dies nicht erlebt haben. Oft gehört zur Initiation ein Element der Isolierung, etwa, daß man sich einer Angst stellt oder sich einer Mutprobe unterzieht. Doch wohl ebenso häufig erlebt man die initiatorische Erfahrung als einen Akt der Gnade, wenn Mysterium und Schönheit in einem schauervollen Moment verschmelzen und wir daran teilhaben. Der neu Initiierte fühlt sich auf archetypische Weise doppelt neugeboren: Durch die Geburt zum Leben wie auch durch ein Mysterium zu einer neuen Seinsweise, einem neuen Bewußtsein.
Man mag es seltsam finden, daß ich über etwas schreibe, das man nur durch persönliches Erleben kennenlernen kann. Oder können Frauen unbewußt auf heiliges Gebiet vordringen, ohne Worte für diese Erfahrung zu haben? Das, was zutiefst empfunden, aber niemals artikuliert, mitgeteilt oder im Zusammenhang gesehen wurde, schwindet leicht wieder aus dem Bewußtsein. Ohne einen Namen oder ein Wort für eine Erfahrung ist kaum Erinnerung möglich: Es ist ein wenig so, wie wenn es nicht gelingt, Zugang zu Informationen in einem Computer zu erlangen - nur viel komplexer, denn was unbewußt in uns schlummert, beeinflußt dennoch unseren Körper, unsere Beziehungen und unsere Träume. Nur mit Worten, die zu dem passen, was wir zutiefst wissen, ist es möglich, über die Bedeutung einer Erfahrung nachzudenken. Wir brauchen Worte, um uns zu erinnern. Wann immer ich zum Beispiel über die 'Stimmgabelerfahrung' sprach, die ich in der Kathedrale von Chartres tief in der Brust empfand, stellte ich fest, daß ich damit die Tore der Erinnerung und Bedeutungsfindung für andere öffnete.
Ich weiß auch aufgrund meiner früheren Arbeiten über Archetypen, daß es für meine Leser wie ein erster Blick in einen Spiegel ist, wenn sie Worte und Bilder für etwas zur Verfügung gestellt bekommen, was sie bislang nur subjektiv gekannt haben. Es besteht die Möglichkeit, sich selbst und damit die Erinnerung an Ereignisse und Gefühle wiederzufinden. Und wenn diese wiedererinnerte Erfahrung eine heilige Dimension besitzt (was auf die weiblichen Mysterien zutrifft), dann erinnert sich die betroffene Frau vielleicht auch daran, daß sie keine Worte für diese Göttlichkeit in sich hatte, noch für die Göttin, die sich derart ausdrückte, und die Macht oder die Ehrfurcht, mit der sie sich in jenem Moment auf unerklärliche Weise in Kontakt fühlte. Wenn sich solche Ereignisse klären, hat man ein ungeheures Aha-Erlebnis.
Auch wenn das für die Leserin nicht so stattgefunden hat, wenn man keine derartige initiatorische Erfahrung erlebt hat oder ein Mann ist, kann sich beim Lesen über weibliche Mysterien immer noch das intuitive Gefühl einstellen, daß das wahr ist, weil wir uns im Bereich archetypischer Erfahrungen befinden und ein kollektives Unbewußtes teilen. Da die Mysterien der Frauen jedoch körperlichen Charakter haben, herrscht immer ein Unterschied zwischen dem, was eine Frau aufgrund ihrer Phantasie oder von Gehörtem rational erkennt, und der körperlichen Erfahrung selbst.
Das Nachdenken darüber führte mich zum Vergleich mit der abstrakten Vorstellung von der Geburt eines Kindes, die ich in der Gynökologie anhand von Lehrbüchern und Vorlesungen entwickelte, im Gegensatz zur direkten Erfahrung einer gebärenden Frau. Ich habe als Medizinstudentin und Praktikantin Frauen in den Wehen betreut und überwacht, habe untersucht, wie weit sich der Muttermund in Vorbereitung für die Geburt ausdehnte, und schließlich auch hundert Babys entbunden - doch all dies bereitete mich nicht auf die tatsächliche Erfahrung 'am eigenen Leibe' vor, ein Kind zur Welt zu bringen.
Schwangerschaft als Initiation
Für mich war die Schwangerschaft eine initiatorische Erfahrung, die meinen Körper veränderte, mein Bewußtsein verlagerte, mich Unterwerfung lehrte und mir eine Vorahnung davon gab, welche körperlichen, psychologischen und spirituellen Ansprüche und Wohltaten ich als Mutter erleben würde. Viel später gelangte ich zu der Erkenntnis, daß Schwangerschaft und Geburt Erfahrungen sind, die einem lebendigen Mythos und einer archetypischen Erfahrung entsprechen.
Wie die Pubertät war die Schwangerschaft etwas, das ebensosehr mit mir wie in mir geschah. Mein Körper veränderte sich tatsächlich und brauchte zusätzliche Energie. Besonders in den ersten drei Monaten war ich sehr müde und schlief mehr als gewöhnlich. Dann veränderte sich mein Körper, und mein Schwerpunkt verlagerte sich. Als Folge davon geriet ich leichter aus dem Gleichgewicht, stürzte einmal und verletzte mich am Knöchel. Emotional wie körperlich spürte ich eine völlig neue Verletzlichkeit.
Dann geschah etwas mit meiner Psyche, etwas, das ich damals 'biologische Introversion' nannte. Mit meiner Jungschen Orientierung wußte ich ja, was eine gewöhnliche Introversion war. Doch das hier war anders. Ich war eindeutig introvertiert, aber nicht im Kopf: Ich war weder nach innen gekehrt noch überaus nachdenklich. Gedanken und Vorstellungen waren nicht wichtig. Ich fühlte mich vielmehr so, als sei das Zentrum meines Bewußtseins aus dem Kopf herabgesunken und existiere nun irgendwo kurz oberhalb meiner wachsenden Gebärmutter. Das Gefühl des 'Ich' ruhte nun in meinem Bauch. Und dieses Ich war damit zufrieden, so still zu sein wie ein Stein in der Sonne an einem Flußufer. Ich arbeitete fast die ganze Schwangerschaft hindurch, obwohl es mich Mühe kostete, mich aus diesem Zustand des einfachen Seins herauszuheben und im Büro zu sitzen, wo ich Herz und Verstand einsetzen mußte, um zu denken, anzuregen und mit anderen zu kommunizieren.
Dieser Sog nach innen während der Schwangerschaft schien Ähnlichkeit mit dem zu haben, was in Sterbenden geschieht, die besonders kurz vor dem Ende, wenn es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis der Verfall des Körpers sie in die unbekannte, oft gefürchtete nächste Phase hineinträgt. Wenn sich dieser Zeitpunkt nähert, wird der Interessenkreis immer kleiner, und die Probleme und Geschehnisse in der Außenwelt verlieren an Bedeutung.
Der Tod der alten Gestalt und das neue Leben, die Geburt, sind für Initiationen fundamental. In der Schwangerschaft geschieht dies auf vielen verschiedenen Ebenen, wenn die Frau immer stärker zunimmt. Sie hatte vielleicht vorher einen geschmeidigen, energischen, kräftigen Körper und bekommt nun einen weichen, sinnlichen. Vorher hatte sie die Figur und Züge eines Mädchens, und ihr Aussehen war für sie wichtig. In der Schwangerschaft verändert sie sich für sich und andere in ihrem Archetypus, indem sich ihre Psyche verlagert und ihr mädchenhafter Körper verschwindet. Das Mädchen stirbt symbolisch, damit die schwangere Mutter hervortreten kann.
Im fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft ähnelt sie den Statuen der Göttin. Sie ist die Verkörperung der berühmten schwangeren Venusstatuen, von denen wohl die Venus von Willendorf die bekannteste ist. Diese Göttinnenstatuen, die vor etwa 20 000 bis 25 000 Jahren entstanden, haben schwere, nach unten spitz zulaufende Beine, damit man sie leicht in Erde stecken kann.
Der Archäologin Marija Gimbutas zufolge zeigen 'präindustrielle Ackerbaurituale eine deutliche, mystische Verbindung zwischen der Fruchtbarkeit der Erde und der schöpferischen Kraft der Frau'. Diese Verbindung schält sich langsam wieder heraus. Ein mystisches Bewußtsein, das mit dem Körper der Frau und deren Verbundenheit mit Gaia, der lebendigen Erde, zu tun hat, wird den Frauen immer klarer. (Das intellektuelle Verständnis, daß wir ebensosehr Teil von Gaia sind wie die Flüsse und Bäume, das James Lovelock als 'Gaia-Hypothese' bezeichnete, ist eine rationale Wahrnehmung. Ich spreche hier von weiblichen Mysterien, die durch den Körper erfahren werden.)
Als ich die ersten Regungen im Uterus spürte und genau wußte, daß dies mein Baby ist, lächelte ich spontan und voller Staunen. Es war eine ursprüngliche, körperliche Erkenntnis, die bestätigte, daß tatsächlich ein Kind in mir wuchs. Für mich war das alles ein Wunder, aber schwanger zu sein gilt als sehr normal, und die ersten Regungen gehören einfach dazu.
Das Patriarchat kennt keine Rituale, mit denen solche Wunder gefeiert werden - wenn Männer aber schwanger würden, wäre die Fähigkeit, Kinder zu gebären, mit Sicherheit für sie ein Beweis der angeborenen Überlegenheit ihres Geschlechts. Die Schwangerschaft würde den Beginn eines größeren Übergangsrituals für den individuellen Mann bedeuten und gefeiert. Und wenn wundersamerweise nun ein einziger Mann schwanger würde, betrachtete man dies und die Geburt als so bahnbrechend wie die ersten Schritte auf dem Mond.
Diese Vorstellung enspringt meiner Überzeugung, daß das Patriarchat alles entwertet, was Frauen natürlich und instinktiv tun. Dahinter steht der männliche Gott und der Gedanke, daß der Mensch nach seinem Abbild geschaffen ist. Doch Tausende von Jahren vor der Bibel, Zeus und den Olympiern verehrten die Menschen die Göttin. Wenn ich daher spekuliere, wie eine Schwangerschaft erlebt würde, falls Leistungen von Frauen allgemein anerkannt würden, denke ich an meine erste Schwangerschaft und die ersten Kindsbewegungen zurück. Dann erinnere ich mich auch, wie es sich anfühlte, als mein Körper zum ersten Mal auf die Energie einer heiligen Stätte reagierte. Ich erinnere mich daran, daß Pilgerfahren stets unternommen wurden, um 'göttliche Regungen' zu spüren. Ich weiß aufgrund dieser Erinnerung intuitiv, daß diese Erweckung als fundamentales religiöses Erlebnis gewertet würde, wenn die Göttin nicht aus unserem Bewußtsein verbannt worden wäre. Eine schwangere Frau würde wissen, daß sie essentieller Bestandteil der Göttin als Schöpferin ist, die alles Leben in ihrem Körper erzeugte. Das Gefühl der eigenen Göttlichkeit würde mit ihrem Gefühl für das Leben zusammenfallen, das sich in ihrem Schoß regt. In diesem Moment würde sie es wissen und sagen: "Die Muttergöttin und ich sind eins."
Meine beiden Kinder wurden Anfang der siebziger Jahre geboren, als die protestantische Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist alles war, was ich kannte, noch ehe ich eine Ahnung von der spirituellen Dimension des Weiblichen hatte. Und trotzdem war ich mir damals, als ich die ersten Kindsregungen in mir spürte, verschwommen bewußt, daß es damit zu tun hatte, ein heiliges Gefäß zu sein. Ich wußte nur keine Worte dafür. Da meiner ersten erfolgreichen Schwangerschaft drei Fehlgeburten vorausgegangen waren, nahm ich nichts mehr als selbstverständlich hin.
Wenn Demeter, Archetyp der Mutter, Seele, Körper und Geist der Frau beherrscht und sie nicht durch körperlichen oder emotionalen Mißbrauch entehrt wurde, passen die Worte des Rosenkranzes, die an die Jungfrau Maria gerichtet sind:
'Ich bin gesegnet unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht meines Leibes', zu dieser Erfahrung - obwohl die Umstände für eine Frau einen großen Unterschied ausmachen könnten, wie sie sich in der Schwangerschaft fühlt.
Diese Worte drücken sehr gut das mystische Bewußtsein aus, das in einer Frau in dem Offenbarungsaugenblick entsteht, wenn sie weiß, daß sie und die Göttin eins sind. Die Schwangerschaft ist der Kahn, der die Frau durch die Nebel von Avalon ins Reich der Göttin trägt.
Wehen und Geburt
Mein Mann und ich hatten zur Geburtsvorbereitung Kurse über natürliche Geburt besucht, einen Film gesehen und Bücher gelesen. Als sich der Entbindungstermin näherte, wartete ich auf das Einsetzen der Wehen wie auf den Beginn einer Expedition oder wie auf meinen ersten Tag an der medizinischen Fakultät:
Mir war zwar völlig neu, was mir bevorstand, aber es weckte meinen Ehrgeiz, und ich beabsichtigte, es gut zu machen.
Ich hatte immerhin akademische Ehren erlangt, Babys entbunden und mein Studium und die Praktikantenzeit erfolgreich hinter mich gebracht. Mit dreiunddreißig Jahren war ich auch kein junger Hüpfer mehr. Unbewußt hatte ich wohl auch Angst, ließ sie aber nicht zu. Meine größte Sorge galt der Gesundheit des Babys. Ich dachte an die Möglichkeit von Komplikationen: Solche Dinge können immer passieren. Viele Frauen empfinden eine tiefsitzende Angst vor dem, was eigentlich jeder weiß: daß im Kindbett auch schreckliche Schmerzen und Tod möglich sind. Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf; bei den Griechen beteten die Frauen in dieser Situation zu Artemis und baten sie um Gnade - entweder für eine schnelle Geburt oder einen raschen Tod.
Die Wehen begannen am frühen Abend und wurden im Verlauf der nächsten Stunden immer stärker und regelmäßiger. Die ersten Stunden waren nicht sehr schlimm, und es fiel mir leicht, die Atemübungen zu machen, die wir im Geburtsvorbereitungskurs gelernt hatten. Eigentlich war es ganz leicht, und das wirkte sehr beruhigend auf mich. Als es Zeit war, ins Krankenhaus zu fahren, fühlte ich mich wie beim Aufbruch zu einem Abenteuer, zu dem ich die Tasche gepackt hatte.
Mein Gynäkologe arbeitete in einer Gemeinschaftspraxis, die zu den ersten in San Francisco gehörte, die Väter bei der Geburt zuließen. Ich war also nicht allein. Es waren meinem Mann und mir bekannte Ärzte da, mir zu helfen, und selbst das Krankenhaus war mir vertraut.
Doch dann wurde es alles andere als vertraut. Mir erging es wie der sumerischen Göttin Inanna, die sich freiwillig entschließt, ihre Schwestergöttin in der Unterwelt zu besuchen, und feststellt, daß sie mehrere Tore durchschreiten und sich bei jedem von etwas trennen muß, das zu ihrer Identität gehört. Das erste Tor war die Aufnahme im Krankenhaus, wo die Patienten ihre Wertsachen und Papiere abgeben. Beim nächsten Tor gibt sie ihre Kleider ab, und man reicht ihr ein Gewand, unter dem sie nackt ist. Hier nahm man mir auch meine priviligierte Stellung als Ärztin. Beim dritten Tor begab ich mich auf die Wehenstation, wo ich mich für die interne Untersuchung auf den Rücken legte: So wurde in regelmäßigen Abständen geprüft, wie weit mein Muttermund sich geöffnet hatte, um abzuschätzen, wie lange es noch dauern würde. Mit zunehmender Wehenstärke verlor ich immer mehr die Kontrolle über mich. Ich fühlte mich, als sei ich in einem veränderten Bewußtseinszustand in die Unterwelt geraten. Die Schmerzwellen erreichten ihren Höhepunkt und wichen zurück, aber jede Welle war länger und intensiver als die vorherige, und die Pausen zum Ausruhen wurde immer kürzer.
Es war schwere, schmerzhafte, körperliche Arbeit, immer näher auf ein Crescendo hin, das immer unerträglicher schien. Die Schmerzen waren so schlimm, daß ich in den Intervallen dazwischen große Angst vor der nächsten Wehe empfand. Dann gab man mir eine Serie von Spritzen mit novocainähnlichen Betäubungsmittel, das den Zervixbereich unempfindlich und den Schmerz erträglicher macht. Irgendwann danach - ich habe keine Ahnung mehr, wann - wurde ich durch ein weiteres Tor in den Kreißsaal geschoben.
Mann nennt die Phase kurz vor der eigentlichen Entbindung, wenn die Wehen am längsten und schmerzhaftesten sind, das 'Übergangsstadium'. Jetzt bewegt sich das Baby durch den Muttermund in den verkürzten Geburtskanal unter dem mütterlichen Schambein hervor in die Welt hinein. In dieser Phase ist der Mutter am stärksten nach völliger Kapitulation zumute, weil ihr alles einfach zuviel wird. Es ist die 'Mauer', gegen die der Marathonläufer kurz vor dem Ziel anrennt, eine Situation, in der dem Körper mehr abverlangt wird, als der Verstand rational für möglich hält. Während den Langstreckenläufer reiner Wille vorantreibt, finden diese letzten Wehen jenseits von Willen und Entscheidung statt. Man kann sich nur noch dem Geschehen ergeben. Von der Übergangsphase an setzen sich die Wehen ununterbrochen fort, bis alles vorbei ist und entweder das Baby geboren ist oder die Mutter stirbt.
Es ist eine überaus kritische Phase für Mutter und Kind, wenn das Baby sprichwörtlich durch ein Tor in die nächste Phase tritt. Jetzt ist die Gefahr am größten, daß Mutter und Kind Schaden nehmen. Das ist der Prototyp aller Lebensübergänge: Wenn wir dieses Tor durchschreiten, ist nichts mehr so wie vorher.
Und genauso war es auch. Mit einer allerletzten Preßwehe trat mein Baby durch mich in diese Welt. Ich war selbst zum Tor geworden. Kurz darauf hörte ich einen Schrei; man sagte mir, ich hätte ein Mädchen, und es sei gesund. Man wickelte meine Tochter in ein Tuch und legte sie mir in den Arm, was unmittelbar größte mütterliche Zärtlichkeit und Staunen auslöste, daß diese kleine Person tatsächlich in mir gewachsen war.
Während der Wehen und der eigentlichen Entbindung spielte sich eine Menge ab, und sehr viel teilte sich mir auf unvertraute Weise ohne Worte oder sogar Gedanken mit. Nur ein einziges weiteres Mal, bei der Geburt meines Sohnes sechzehn Monate später, erlebte ich diese Initiation noch einmal. Wieder wurde ich zum Teil des weiblichen Mysteriums, und mir wurde etwas enthüllt, das ich eher als Verwirrung empfinde denn als eine Erleuchtung. Es war ein Abtauchen in die Dunkelheit, ein sich darin Auflösen, auf das Offenbarung folgte. Es steht in völligem Gegensatz zu jenem Momenten der Erleuchtung, dem Sekundenbruchteil einer blitzartigen Erkenntnis, wenn man mit dem Verstand etwas begreift. Das 'Ich', das in der Welt etwas erreicht hatte, war im Kreißsaal nicht anwesend. Es war eine Initiation, durch die ich eine fundamentale Verwandschaft mit allen Frauen der Geschichte empfand, die jemals diese Schmerzen und diese Transformation durchgemacht hatten. Nichts unterschied mich von sämtlichen anderen Frauen in der Welt, die jemals ein Kind geboren hatten.
Die Erfahrung von Wehen und Entbindung bedeutete die Aufnahme in die Frauenbewegung: Die Verwandtschaft mit Frauen, die tiefreichende Schwesternschaft, nahm hier ihren Ausgang. Ich empfand ein mystisches Gefühl des Einsseins mit allen Frauen. Keine meiner bisherigen Leistungen spielte eine Rolle oder hob mich hervor. Meine Individualität bedeutete nichts mehr. In diesem Erlebnis war ich die Frau schlechthin. Es war eine sehr tiefgehende Erfahrung.
Ich könnte mein Medizinstudium und das Übergangsritual der Praktikantenzeit - damals eine der größeren Initiationsprüfungen für Männer - mit der Geburt vergleichen. In vieler Hinsicht war die Geburt eines Kindes schwerer; die Notwendigkeit, sich einfach der Erfahrung zu unterwerfen, war gewiß absoluter. Trotz der wohl günstigsten Umstände, mit meinen Kenntnissen über den Vorgang und die Unterstützung durch meinen Mann, den Arzt und das Pflegepersonal, herrschten dennoch Angst und Schmerzen vor. Dazu kam die Isolierung, weil ich all das allein durchstehen mußte. Mir wurde klar, wie bei Schwangerschaft und Geburt Frauen in aller Welt ein wichtiges Übergangsritual erleben, das als solches weder in der Gesellschaft noch in irgendeiner Religion anerkannt wird. Bei männlichen Übergangsritualen werden die Elemente der Prüfung, des Todesrisikos und der Transformation gespielt (wie etwa bei Ritualen der Verbrüderung und Aufnahmeprüfungen in bestimmte Gruppen. Das gleiche gilt auch für von Anthropologen beschriebene Ureinwohnerrituale; durch solche Riten definiert sich Männlichkeit). Doch was bei einer männlichen Zeremonie nur gespielt wird, ist in der Schwangerschaft Wirklichkeit: Die Wehen sind eine Tortur, es besteht ein echtes Risiko zu sterben, und die Frau wird tatsächlich transformiert.
Im Prozeß dieser Initiation wird aus dem Körper des Mädchens der einer Frau, und sie gebiert neues Leben. Doch all das ist nur der Beginn einer Verpflichtung, denn damit das Kind überlebt und gedeiht, muß die Initiierte die Verantwortung für dieses neue Leben übernehmen. Sie ist zwar nicht allein für die Fortpflanzung der menschlichen Art verantwortlich, aber die menschliche Art überlebt nur, weil einzelne Frauen diese Initiation durchstehen und neues Leben gebären. Die Schwangerschaft war für mich eine tiefe Erfahrung mit heiligen und furchterregenden Augenblicken. Es war ein Übergangsritual und ein Erlebnis, die mich auf immer veränderten.
Rückblickend erkenne ich mich Entsetzen, daß ich während meiner ärztlichen Ausbildung in drei Lehrkrankenhäusern nie die unsensiblen und verunglimpfenden Einstellungen und Praktiken erkannt und angeprangert hatte, die sich gegen Frauen richteten, die sich bei der Entbindung 'schlecht benahmen'. Diese Haltung hatte ich sogar geteilt, obzwar weniger stark ausgeprägt. Ich kann mich an mehrere Vorfälle erinnern:
an die junge Frau, die mit den stärker werdenden Wehen vor Schmerzen und Angst schrie, und zu der ein Gynäkologe sagte:
"Daran hätten Sie denken sollen, als Sie die Beine breit machten!"
Ich erinnere mich an die Verachtung und den Spott des Personals, wenn Frauen die Jungfrau Maria um Hilfe anflehten. Die normal verlaufenden Geburten wurden im Kreißsaal von Medizinstudenten und Praktikanten versorgt, und es war oft ganz deutlich, daß sie hier ein bißchen übten. Doch ich muß hinzufügen, daß das noch besser war als alles, was mir andere Ärzte aus ihrer Ausbildungszeit erzählten. Meine eigene Schwangerschaft überzeugte mich zudem, daß man keine Frau dazu zwingen sollte, dies gegen ihren Willen durchzustehen, besonders, wenn das Kind durch eine Vergewaltigung oder Inzest empfangen wurde - Umstände, die ihren Körper und Seele entwürdigten.
Eine schwangere Frau unterwirft sich dem Prozeß von Schwangerschaft, Wehen und Geburt. Durch diese Erfahrung wird sie in Körper und Seele völlig verwandelt. Doch das Zentrum ist dabei nicht die Frau, sondern das Kind, das sie trägt. Wir freuen uns auf seine Geburt und fragen uns, wie es sein wird. Doch ebenso wichtig wie ein neues Leben ist die Frage, wie die Frau sich daraufhin verändert.
Schwangerschaft ist wie Kreativität. Diese entsteht, wenn man in seine eigenen Tiefen vordringt. Durch den Schaffensprozeß wird die Person verändert - durch kreative Arbeit, die der Seele entspringt und deren Kind ist. Die Erfahrung der Schwangerschaft und der kreative Prozeß mögen durch die schoßähnlichen Labyrinthe symbolisiert sein, die man in Eingangsnähe ritueller Höhlen und auf dem Boden von Kathedralen findet.
Aus:
Jean Shinoda Bolen, Auf der Suche nach Avalon. Eine Frau entdeckt ihre Spiritualität, Hugendubel München 1996
Morgaine - 15. Jul, 21:14
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