Montag, 20. März 2006

Als Herr Müller sein Selbst vergass

Teil 1

Fortan saß das Selbst nicht mehr in der Stube, sondern still im Schrank und staubte langsam ein. Herr Müller vergaß ziemlich schnell den Vorfall, und viele Jahre gingen ins Land, bis er einmal eher zufällig seinen Schrank öffnete und darin sein vergessenes Selbst sitzen sah.

Traurig war es anzusehen, verstaubt, hungrig und alt. Nicht einmal ein frisches Hemd hatte es in all den Jahren angezogen. Dies mochte Herr Müller von Nebenan sich nicht ansehen, ihn grauste - und doch schlug er schnell die Tür wieder zu, als das Selbst auf einmal die Augen aufschlug und ihn anschaute.

Am nächsten Morgen war Herr Müller beunruhigt, und auch bei der Arbeit ließ ihn der Gedanke an sein Selbst im Schrank zu Hause nicht los. Zu gerne würde er noch einen Blick riskieren, und vielleicht, wenn er es nähren würde ...

Der Tag wollte und wollte nicht vorübergehen, und auch die Heimfahrt erschien ihm endlos. Zuhause angelangt wärmte er dem Selbst und sich ein Essen und lud es ein, aus dem Schrank herauszukommen, er wolle sich auch für sein Benehmen entschuldigen. Groß war seine Verwunderung, als das Selbst keinerlei Anstalten machte zu essen oder den Schrank zu verlassen. Im Gegenteil, auch an den folgenden Tagen besserte sich dieses nicht, das Selbst war wohl heimisch geworden in Schrank und Hunger.

Manchmal redet es mit Herrn Müller oder isst sogar mal einen Apfel, zieht es jedoch vor, bei geschlossener Tür im Schrank zu hungern. Herrn Müllers Tage sind lang geworden seither, aber er gibt die Hoffnung nicht auf. Gestern hat es ihm sogar ein wenig zugelächelt.

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Helen21

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Astrid Haarland M.A. Politologin - Soziale Kunst- und Ausstellungsmacherin - Commander/ISLA - a.haarland(at)googlemail.com - Choose safe communication ... ;-)

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