Samstag, 9. Dezember 2006

Die Neurose dauert an

Edwin Kratschmer

Die Zersetzung der Seele wird versucht, seit es Offenbarungsideologen gibt, fanatische Hüter einer EWIGEN WAHRHEIT. Man lese nur nach in der Bibel: Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? (Matthäus 16, 26).

Da sorgten sich doch einige Hirten um das Seelenheil ihrer Herde, hielten sich für kompetent und befugt, im Namen einer Idee an den Herdenseelen herumzumanipulieren – aber der eigentliche Erkenntnisschlag traf mich vor Stephan Lochners Kölner Weltgerichtsaltar. Da öffnete sich mir schockartig die Mär vom Jüngsten Tag auch als fortdauernde Bedrohung des Menschen bis in alle Ewigkeit, indem eine Maiestas Domini, ein Über-Ich also, die Einhaltung der von ihm erlassenen Richtlinien kontrolliert und alle unangepaßten Seelen richtet. Glücksversprechen mit ewigen Paradiesesfreuden für die Gehorsamen, der Höllenrachen für DIE ANDEREN.

Wir kennen solche Visionen in der Skulptur und später im Bild seit dem fünften Jahrhundert: die Trennung der Schafe von den Böcken, das Wägen der Seelen - und Engel und Apostel assistieren der Maiestas beim Selektieren an der Rampe; die Auserwählten nach rechts in den Himmel, wo sie sich zu seligen Reigen formieren, die Verdammten nach links in die Öfen, wo die Höllenknechte schon geschäftig ihrer harren. Und dieses ideologische und ikonographische Programm empfing die Gläubigen an den Portalen der Kathedralen und auf Altären, und die bildenden Künstler vieler Jahrhunderte wurden nicht müde, diese Apokalyptik – je nach sadistischer oder masochistischer Veranlagung, ob Sunnyboy wie Rubens oder Neurotiker wie Bosch – detailliert auszuschmücken." weiter

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