Freitag, 29. Dezember 2006

"Jenseits von Gewalt und Gewaltlosigkeit"

Ich schlage keinen Mittelweg zwischen den Gandhianern und dem Schwarzen Block vor. Ich sage aber, daß wir uns in unbegangenes Gelände hinein bewegen und politische Strukturen erschaffen, die noch undefiniert sind. Und dazu ist es nötig, Martin und Malcolm mit Emma, Karl, Leon und all den anderen bei ihrer Diskussion am Abendtisch zurückzulassen und hinauszutreten in die klare Nachtluft. Die Diskussion um "Gewalt" und "Gewaltlosigkeit" schränkt unser Denken ein. Aus magischer Sicht funktioniert der Begriff " Gewaltlosigkeit" nicht gut. Jede Hexenanfängerin lernt, daß sie nicht einen Zauber gegen etwas wirken kann – daß unsere geistigen Tiefenschichten kein klares Konzept von "Nein" haben. Wenn du deinem Hund sagst: "Rover, ich kann nicht mit dir rausgehen." wird Rover hören "rausgehen" und zur Tür laufen. Wenn wir "Gewaltlosigkeit" sagen, denken wir immer noch in Begriffen der Gewalt.



Ich bin alt genug, eine Reihe von Revolutionen scheitern gesehen zu haben. Für jemanden meiner Generation ist schon der Umgang mit dem Wort Revolution wie für jemanden, der oder die in einer Liebesbeziehung tief verletzt worden ist, sich wieder auf eine Liebe einzulassen. Ich bin zu diesem Risiko bereit: wieder im Stich gelassen zu werden, enttäuscht zu werden, betrogen und verleumdet, wie auch der ständigen Gefahr, eingesperrt, begast, geprügelt, herumgeschubst und auf die Straße getrampelt zu werden – aber das alles nicht, um nur die Machthaber im System auszutauschen. Ich möchte eine Revolution, die das Wesen dessen verändert, wie Macht strukturiert und wahrgenommen wird, eine Revolution, die alle Herrschafts- und Kontrollsysteme als solche in Frage stellt, die die Kraft der Individuen stärkt sowie unsere gemeinschaftliche Kraft, die wir ausüben, wenn wir solidarisch handeln. Ein anonymer Autor auf der Website Crimethink drückte es so aus: "Die Revolution ist kein einzelner, entrückter Moment, sondern ein fortlaufender Prozeß überall, wo es einen Kampf zwischen hierarchischer Macht und der menschlichen Freiheit gibt."



Ich weiß keine treffende Formulierung für diesen Ansatz des politischen Kampfes. Mangels eines besseren Ausdrucks spreche ich von "empowered direct action" (Anm.d.Übers.: für gute Übersetzungsvorschläge bin ich dankbar), "selbstbestimmte direkte Aktionen". Vieles davon entwickelt sich in unserer Bewegung bereits.



Das Ziel einer selbstbestimmten direkten Aktion besteht darin, den Menschen zu vermitteln, daß eine bessere Welt möglich ist, daß sie etwas für ihr Entstehen tun können und daß wir in diesem Kampf würdige MitstreiterInnen sind. Und dann diese Welt in dem Kampf selbst lebendig werden zu lassen, die Revolution zu verkörpern und den Entwurf dessen zu zeigen, was wir erschaffen wollen. Selbstbestimmte direkte Aktionen lehnen bestimmte Taktiken nicht einfach ab oder schränken sie ein: Sie suchen aktiv und kreativ nach Aktionen, die schon die Welt vorentwerfen und verkörpern, die wir erschaffen wollen. Sie setzen Symbolik geschickt ein, sind aber mehr als symbolisch: Sie stellen sich den unterdrückenden Taten in den Weg und konfrontieren mit Alternativen. Selbstbestimmte direkte Aktionen bedeuten, radikal unsere Phantasie einzusetzen und den Raum zu fordern, den wir zur Umsetzung unserer Visionen brauchen: Es ist Magie in der Definition als "willentliche Veränderung des Bewußtseins". Sie stellen die Machtstrukturen selbst in Frage und widersetzen sich allen Herrschaftsformen und Kontrollsystemen. Sie unterlaufen die Legitimationen der Kontrollinstitutionen, indem sie selbst Freiheit verkörpern, direkte Demokratie, Solidarität und Respekt für die Vielfalt in unseren Organisationen und Aktionen. Es beginnt mit der Klarheit der Absicht, bevor wir zur taktischen Vielfalt kommen. Das heißt: Bevor wir entscheiden, welche Taktik wir anwenden wollen, müssen wir wissen, was wir tun wollen.


Aus:

Starhawk, Deutsche Übersetzung "Jenseits von Gewalt und Gewaltlosigkeit – Lehren aus den Aktionen in Quebec"
Activism Writings

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