Dienstag, 8. Februar 2005

Aufstieg vor Sonnenaufgang. Denn sie wissen, was sie tun.

Für mich bist Du jemand, der beobachtet und schreibt, was er sieht, ein Tourist in den Bergen, der mit der Seilbahn bis zur Hütte auf 2000 Meter fährt, seinen Kaffee dort oben trinkt, mit anderen Gästen an blankgescheuerten Holztischen sitzend und in kurze Gespräche vertieft, Gespräche darüber, wie es denn sein könnte, dieses Gefühl des Aufstiegs vor Sonnenaufgang um fünf Uhr in der Früh, wenn unten im Tal noch die Menschen in ihren Luxusbetten liegen und das Personal damit beschäftigt ist, die Tische im Frühstücksraum für den großen Ansturm am Morgen einzudecken. Nur ganz wenige sind zu dieser Zeit schon seit Stunden unterwegs, die Kälte in den Knochen trotz der Strapazen spürend, erst der Sonnenaufgang später am Morgen führt zu einem ganz langsamen Anstieg der Temperatur. Wie kannst "Du" wissen, was es heisst, den Berg hinaufzuklettern, mühsam Schritt für Schritt, auf Geröllhalden ausrutschend, kurze Pausen auf Felsvorsprüngen, der Blick hin und wieder nach unten gerichtet, und immer ist da die Angst vor dem Sturz und dem Fall. *Du* kannst niemanden in den Abgrund stoßen, denn du bist erst nach Sonnenaufgang aufgestanden, bist mit der sicheren Seilbahn nach oben gefahren und sitzt in der Hütte, unterhältst dich mit Bergwanderen, die es getan haben, beobachtest sie und hörst ihnen zu, wirst später vielleicht deren Geschichte schreiben und über ihre Angst vor dem freien Fall. Hast du es jemals gewagt? Bist du jemals bis ganz nach oben zum Gipfel geklettert? Ehrlich gesagt glaube ich es nicht. Wer bis zum Gipfel kommt, der freut sich über diese Schönheit dort oben, die er mit viel Mühe hat erkämpfen müssen, der ist ganz still und schweigt und verspürt nicht die Lust, jemanden von dort aus ganz nach unten in den Abgrund zu stoßen. Er weiß, dass Freiheit am Berg darin besteht, den Weg noch vor Sonnenaufgang ohne die sichere Seilbahn bis nach oben zu gehen. Freiheit ist für dich etwas ganz anderes, Freiheit heißt für dich freier Fall? Nun, wenn das so ist, dann frage ich mich, weshalb du nicht nach oben gestiegen bist und dann selber den Schritt über den Abgrund getan hast. Weshalb du diese Erfahrung nicht selber machen wolltest, diese angebliche Erfahrung der Freiheit im freien Fall.

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