Montag, 25. Juni 2007

Greetings von einem unbekannten Coach

via attac-d


Tach Leute,


ich arbeite in einem CallCenter von Arvato. Das ist der Sauhaufen der als Teil des Bertelsmannkonzern sich gerne den Anstrich sozialer Einstellung und Verantwortung gibt. Der gleiche Verein, der in UK eine Gemeindeverwaltung privatisiert hat und gleiches in Deutschland plant.

Wir hatten gestern eine sogenannte Betriebsversammlung.
Ein paar der gewonnen Eindrücke möchte ich gerne mit euch teilen.
Wir wurden nicht explizit darauf hingewiesen, dass wir einer
speziellen Betreibsversammlungsgeheimhaltungspflicht unterliegen,
also lehne ich mich mal ganz weit aus dem Fenster und hoffe dabei
nicht abzustürzen und dass der Listadmin meiner Bitte um Anonymität entspricht ;-)

Die erste Merkwürdigkeit war die, dass die Versammlung in zwei
Etappen durchgeführt wurde.

Es gab eine "Tagesordnung" mit verschiedenen Berichten und eine
anschliessende Fragerunde.

Anwesend waren jeweils in beiden Versammlungen etliche Angestellte, ein Betriebsratsmitglied, eine frisch ernannte
Schwerbehindertenvertrauensperson, ein Gewerkschaftsfuzzie und ein paar hohe Tiere (regional + überregional).


Zuerst wurden wir freundlich begrüsst und für unser Erscheinen
bedankt.

Es gab ein paar uninteressante Infos (z. B. dass die
Renovierungsarbeiten bald abgeschlossen sind) und es folgte die
Frage ob wir denn wohl soweit Fragen hätten.
Eine gab es: "Wann können wir damit rechnen, dass die Renovierung des Raucherraums abgeschlossen ist?"
Die Antwort war: "Dazu kann ich nicht allzuviel sagen, aber im Moment ist es ja noch recht freundlich draußen und ich bin zuversichtlich, dass das noch vor dem Winter erledigt sein wird. Ha Ha." (Das war eines der Tiere)

Danach wurde das Wort an die Vertrauensperson der körperlich
Versehrten übergeben. Sie hat sich vorgestellt, erklärt dass sie nun
endlich nach Jahren der Telefonie etwas erreicht hat (OK, sie sagte
es nicht genau so, aber darauf lief es hinaus). Wir wurden darüber
informiert, dass wir, wenn wir uns vertrauensvoll an den Betriebsrat oder die Vertrauensperson wenden wollen, wir das während unserer Arbeitszeit machen sollen und dass wir einen neutralen Idlecode (Sonderaufgabe SV) verwenden sollen.
[---Zwischenspiel---
Zur Erklärung für diejenigen unter euch, die nicht wissen was es
damit auf sich hat: EinE CallcenteragentIn hat eine persönliche
Zahlenkombination mit der sie/er sich am Telefon anmeldet. Man kann entweder "bereit" sein ein Gespräch entgegen zu nehmen oder nicht. Ist man nicht bereit, ist man "geidelt". Es gibt verschiedene Gründe für Idle sein. "Nacharbeit" muss wohl ebensowenig erklärt werden wie "WC".
SV steht für SuperVisor. Das ist der direkte Vorgestzte auf
der "Fläche". Über dem SV steht der Gruppenleiter, darüber noch ein paar echt wichtige Leute, aber die geben sich nicht mit Agents ab, das ist unter deren Niveau. Es gibt Walking Agents, das sind besonders fitte und schlaue Leute, deren Aufgabe besteht darin dem gewöhnlichen Agent mit Rat und/oder Tat zur Seite zu stehen, wenn er fachlich nicht mehr weiter weiß. Es gibt Trainer. Die stehen gewissermaßen außerhalb der Hierarchie und sind wie ihr Name sagt für Trainings-, Aus- und Fortbildungsmaßnahmen zuständig. Sie genießen ein besonderes Vertrauen und sind nur bedingt Rechenschaft über die einzelnen Agents schuldig. Sie sind Vertrauenspersonen, die alles daran setzen sollen die Agents fit für den beruflichen Alltag zu machen und Schulungen abzuhalten.
Zwischen Trainer und Agent steht der Coach. Der Coach belauscht die Agents heimlich beim Telefonieren und anschliessend ganz offen. Der Coach füllt je belauschtem Gespräch einen Bewertungsbogen aus und ermittelt ein %-Ergebnis der mitgehörten Gespräche. Dieses Ergebnis unterliegt ebenfalls der Geheimhaltung, ganz besonders in Bezug auf "verantwortliche Personen mit Entscheidungsbefugnis im Hinblick auf Vertragsverlängerung oder Entlassung". Alles was ein Coach
heimlich oder offen mithört ist vertraulich, er/sie darf darüber
nicht mit anderen Agents oder SVd oder Gruppenleitung oder noch
höher reden. Die eigentlich Aufgabe des Coach liegt darin, Vertrauen zu geben und zu nehmen, mit dem Ziel in an das Coaching anschliessende Feedbackgespräche die Agents aufzubauen, zu motivieren und sie sowohl fachlich als auch sprachlich dahingehend zu beeinflussen, dass sie stets die Qualität ihrer Arbeit verbessern und dabei das Gefühl habe, dass sie es aus eigenem Antrieb tun. Da ich ein Coach bin, weiss ich sehr genau, dass ein Coach sehr sehr viele private Dinge über die Agents erfährt. Die Agents wissen ja erstmal nicht, dass sie belauscht werden. Der Coach ist die Vertrauensperson, der der Agent alle Sorgen und Probleme anvertrauen kann und auch soll. Der Coach motiviert und baut auf. Der Coach ist zur Verschwiegenheit verpflichtet. Der Coach legt nur gegenüber Trainern Rechenschaft über seine Tätigkeit ab und nur Trainer dürfen über während einem Coaching erlangte Kenntnisse informiert werden. Der Coach ist also auch eine Vertrauensperson die nicht nur fachlich erste Klasse ist, sondern auch menschliche Qualitäten mitbringen muss und steht zwischen den Fronten und Hierarchien.
---ENDE---Zwischenspiel---]

Also, alle WAs, Coaches, SVs und auch die Gruppenleitung haben
Zugruff auf ein Programm das ihnen ermöglicht zu sehen, wer wie
lange in welchem Stauts ist. Ein SV muss reagieren, wenn jemand
seine Pause um 2 oder 3 Minuten überzieht. Ein SV ist die Person,
die aus den unterschiedlichsten Gründen dazu aufforden kann, dass
sich ein Agent auf "SonderaufgabeSV" idelt. Die, ansonsten recht nette, Versehrtenvertrauensperson erzählt uns also, dass wir uns, wenn wir den Betriebsrat oder sie selbst in einer vertraulichen Angelegenheit kontaktieren möchten, den Idlecode SonSV verwenden sollen. Schliesslich geht es ja niemanden etwas an,
was wir, bzw ob wir überhaupt etwas zu besprechen haben. Ein SV, der keine SonSV angeordnet hat wird sich sicherlich nicht fragen warum ein Agent diesen Idlecode benutzt...

Da wir zu Anfang der Versammlung darauf hingewiesen wurden, dass die Veranstaltung aufgezeichnet wird "um die Erstellung des Protokolls zu vereinfachen"(!) hat sich niemand getraut der Aufzeichnung zu widersprechen. Statt dessen wurde allgemein darauf geachtet, nicht gerade im Fokus der Kamera zu sein, wenn man dem Kollegen nebenan die Lächerlichkeit der ganzen Farce ins Ohr flüsterte.

Die Vertauensperson der Versehrten hat sich dann noch artig für die
Aufmerksamkeit bedankt und betont, dass sie sich wünscht, wir mögen doch möglichst zahlreich Behinderungen geltend machen, damit sie auch was zu tun hat.
Dass die gesamte bauliche Gegebenheit des Callcenters für wirklich
körperlich beeinträchtige Personen absolut untauglich ist und nur
ein entsprechender Grad an geltend gemachten Behinderungen teure bauliche Veränderungen enormen Ausmaßes verhindern könnte ist ihr vermutlich selbst nicht klar! Sollte es ihr klar sein, muss sie wohl ihre Seele verkauft und ihr Hirn an der Eingangstür abgegeben haben.

Im Anschluss hatte der Betriebsrat im großen und ganzen nichts zu
berichten. Das heißt doch, er stehe mit der Geschäftsleitung in
Verhandlungen ein vernünftiges Prämiensystem auszuhandeln.
Das bei Einstellung angebotene Gehalt wurde für Abwimmeln bezahlt. Also dem Kunden sagen "ich kann leider nichts für Sie tun, rufen Sie bitte 0180 xxx xxxx oder 0800 xxx xxxx an". Mittlerweile haben wir aber enorme Verantwortung übertragen bekommen, Verantwortung die Denkfähigkeit voraussetzt, die logisches Denken und Schlussfolgern voraussetzt. Wir werden nach Qualität der abgelieferten Arbeit beurteilt; SVs haben unvorstellbare Kennzahlen über jeden Agent zur Verfügung und erstellen Beurteilungen auf deren Basis die Gruppenleitung entscheidet ob ein Zeitvertrag verlängert wird oder nicht. Wir werden ständig geschult, in neue Programme und Tarife eingewiesen, sollen erstklassige Arbeit abliefern und werden drittklassig bezahlt. Die 50.000 T-Com Leute, die jetzt trotz wochenlangem Streik verarscht wurden verdienen in etwa das Doppelte wie wir. Damit will ich nicht sagen, dass die überbezahlt sind, sondern dass wir schlicht und ergreifen Hungerlöhne bekommen. Wenn ich alle Unkosten die mir durch den Job entstehen abziehe, habe ich
monatlich etwa 70-100 Euro mehr als mit HatzIV. Als Coach ist mein Bruttogehalt 62,- höher als das eines gewöhnlichen Agents.
Es ist geplant eine firmeneigenen Kinderhort einzurichten. Konkret
gibt es überhaupt nichts zu berichten, aber es wird jetzt mal der
Bedarf ermittelt und dann wird irgendwann mal entschieden werden ob es einen eigenen Hort gibt oder ob man mit einem vorhandenen Hort eine Kooperation eingeht...

Aber wir haben ja die Möglichkeit unser Gehalt durch aktives Cross- und Upselling aufzubessern. Wir können Email- und Sicherheitspakete anbieten. Für jeden erfolgreichen Verkauf gibt es 3,- brutto (ca. 1,20 netto)...

Als der Betriebsrat mit nichts fertig war, bekam ein Tier das Mikro.
Es hat uns dann erzählt, wie toll sich die Firma entwickelt hat,
seit vor knapp 2 Jahren nur 80 Mitarbeiter bereit waren die neuen
Vertragsbedingungen zu unterschreiben. Mittlerweile haben wir aber viele Auftraggeber und rund 900 Angestellte und alles ist ganz toll und rosarot. Wenn ich nur wüsste warum der Kerl ständig den linken Zeigefinger unter der Nase gerieben und dabei tief eingeatmet hat...

Dann durfte der Gewerkschaftsfuzzie noch ein paar Worte sagen. Er hat sich kurz vorgestellt, seine Odyssee durch die Republik bekannt gegeben und dass er sein Bestes für unser Wohlbefinden tun werde. Jemand der 8h arbeite müsse doch verdammt nochmal das Recht haben, von seinem Einkommen sich und möglicherweise sogar auch noch ein Familie zu ernähren. Er werde alles tun um zu verhindern, dass Dumpinglöhne das bestehende Kräfteverhältnis am Markt zerstören könnten. (An dieser Stelle wurde vielfach hinter vorgehaltener Hand gekichert. Schliesslich sind wir diejenigen, die für Dumpinglöhne
arbeiten. Wir sind es, die das Gefüge aus den Fugen gebracht haben. Wir waren verzweifelt genug für die paar Kröten im Schichtdienst zu arbeiten und und und. Für wie bescheuert halten die uns eigentlich,dass sie der festen Überzeugung sind wir würden das Gelüge und falsche Spielen nicht durchschauen?). Da wir alle verzweifelt genug sind, hat sich natürlich niemand getraut hier konkret nachzufragen, was der Fuzzie denn unter Dumping
versteht, oder wie der Fuzzie mit unserem Gehalt eine Familie
ernähren würde. Alles wurde aufgezeichnet, wer stellt da kritische
Fragen?

Arvato zahlt kein Fahrgeld. In ganz Deutschland nicht. Basta!
Das letzte öffentliche Verkehrsmittel, ein mieser stinkender Bus
fährt etwa eine Stunde vor Ende der letzten Schicht bei uns. Es gibt
Dienste, die rund um die Uhr vor Ort sein müssen. Die sollten halt
Fahrgemeinschaften bilden wenn sie sonst nicht nach Hause kommen.

Das alles hat etwa eine halbe Stunde gedauert. Die Versammlung
dauerte eineinhalb Stunden. Die fehlende Stunde wurde damit
verbracht über ein recht unappetitliches Thema zu reden.
Einige wenige Angestellte (vermutlich 2-3) geben recht regelmäßig ein Statement über ihre Sicht der Firma und ihrer Leitung ab, indem sie sich beim Entledigen von ihren Stoffwechselendprodukte gezielt neben dem dafür vorgesehen Keramikgefäß befinden.
Ein äußerst mutiger Kollege merkte an dieser Stelle an, dass die
betreffenden Personen mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht
anwesend seien und seine Tiraden damit sicherlich ihr Ziel nicht
erreichen würden. So richtig in Rage geredet hat das Tier dann behauptet, wir wüssten doch alle wer die Schweine sind und wir müssten ja nur etwas Gruppendruck erzeugen.
Wir sind angeblich die einzige Niederlassung zu der sich der arme
gestresste Manager Gedanken über die Hygiene machen muss.
Wir sind aber die Niederlassung, die dank des geringen Lohnniveaus eine ganz besondere Rolle im Konzern spielt. 1+1=0?

Zwischendurch wurde von einem ebenfalls sehr mutigen Kollegen die Frage aufgeworfen, wie lange denn der aktuelle Vertrag zwischen Arvato und dem Auftraggeber in dessen Name er seinen Dienst tue laufe. Die Antwort war, dass die 50.000 Kollegen für mindestens 2 Jahre einen sicheren Job hätten. Die Beschäftigungsgarantie der
50.000 hat aber nicht das geringste mit _unserem_ Job zu tun. Die
Frage wurde schlicht und ergreifend nicht beantwortet. Genau
genommen wurde keine einzige der (zum Großteil hier nicht genannten) Fragen nicht beantwortet.

Als dann das Ende des programmatischen Teils der Versammlung erreicht war, merkte die Betriebsratsschnepfe noch an:
"Hat noch jemand Fragen? Wieso habt ihr keine Fragen mehr? Sonst fragt ihr auch immer alle möglichen Sachen. Jetzt ist mal jemand da, der euch antworten könnte, also stellt doch eure Fragen."

Ich frage mich immer noch, ob sie wirklich nicht begriffen hat, dass niemand Fragen stellt weil es entweder sowieso kein Antwort gibt oder die Vertragsverlängerung schon allein durch die Frage unmöglich wird...


Auch wenn es alles in allem in keinster Weise irgendwie komisch war, wir haben versucht das beste daraus zu machen. Unser geheimes Motto der Woche lautet für das nächste halbe Jahr:

"Ich schreibs mit Scheisse an die Wand,
neue Führungskräfte braucht das Land."

Wenn man nichts mehr zu lachen hat, dann lacht man auch über Sachen die wirklich alles andere als komisch sind.


Dies ist kein wortgetreues Protokoll, es hält sich nicht unbedingt an
die zeitliche Abfolge, aber es gibt die Lächerlichkeit der
sogenannten Betriebsversammlung halbwegs korrekt wieder. Es wurde mehrfach gegengelesen und es gab keine Korrekturen.

Vor 10-20 Jahren konnte man noch sagen: "hättest du etwas
Vernünftiges gelernt, müsstest du heute nicht...". Ich habe etwas
Vernünftiges gelernt, zwei mal, und trotzdem habe ich momentan keine andere Möglichkeit als mein Halbschattendasein dahingehend zu nutzen, den noch Verzwiefelteren etwas Hoffnung und Auftrieb zu geben. Das mti dem Hoffnung geben ist so eine Sache. Einerseits versuche ich meiner Jobbeschreibung gerecht zu werden. Andererseits bin ich zu ehrlich sie wirklich belügen zu können. Es gibt viele Leute (in "meinem" Dienst arbeiten 85), die so dermassen verzweifelt sind, dass ich ihnen wirklich ein klein wenig helfen, sie unterstützen und seelisch-moralisch aufbauen kann. Ein weiterer Teil ist schlau genug zu wissen, dass dieser Job ein, hoffentlich kurzes, Zwischenspiel im Laufe ihres Berufslebens ist. Der letzte Teil ist (seht es mir nach) wirklich etwas dümmlich und freut sich tatsächlich ernsthaft über mein Lob.


Thomas D.: "Ich schwör, ich wär' so gern' wieder Frisör"
(...)

Sollte euch jetzt eine Träne die Backe runter laufen, schämt euch
nicht dafür, mir laufen sie auf beiden Seiten!


Greetings von einem unbekannten Coach
(...)

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