Donnerstag, 8. September 2005

Identität, Selbsthaß und Kriminalität

Der Selbsthaß ist nicht nur eine Folge der Selbstunterwerfung, sondern wirkt auch als ständige Verstärkung dieses Selbstverrats. Die Existenz des Selbsthasses wird umso nachhaltiger verschleiert, je mehr die Selbstunterwerfung zur Entwicklung einer fremdbestimmten Identität geführt hat. Wenn einer das Selbst, das er haben könnte, zwar aufgegeben hat, aber sich nicht mit einer Ideologie der Pflichterfüllung identifizieren kann, dann kann daraus offene Kriminalität werden. Sie, die ganz sichtbar gegen die geltenden Gesetze verstößt, ist zu unterscheiden von jener verdeckten Kriminalität, die im Mantel der Legalität Unrecht tut. Beide haben sich der Macht als der einzig gültigen Realität ergeben, aber der offen Kriminelle haßt die 'Liebe', die ihn dahin gebracht hat, und widersetzt sich ihrer Verherrlichung. Er akzeptiert nicht die herrschende Ideologie der Pflicht, identifiziert sich nicht mit ihr und verhält sich so nicht den gesellschaftlichen Erwartungen gemäß. Kriminelles Handeln, das sich im Mantel einer offiziellen Identität verbirgt, braucht dagegen eine totalitäre Ideologie, um die Mordlust vor sich selbst zu verbergen.

Klaus Barbie ist das Beispiel eines solchen Mörders in höherem Auftrag. Er war zwanzig Jahre alt, als sein Vater, ein gewalttätiger Trunkenbold, starb. Bis dahin war er ein braver Katholik gewesen, den Nachbarn in seiner Heimatstadt Trier als freundlichen Jungen, der sich für die Armen einsetzte, beschrieben. Nach dem Tod des Vaters ging er zur Hitler-Jugend. Damit vertauschte er seine fromme Identität mit einer hinterlistigen und rachsüchtigen. Die jugendliche Ergebenheit an "christliche" Nächstenliebe und der missionarische Eifer für die Habenichtse schlugen um in neuheidnische Militanz, die sich der Doktrin verschrieb, daß den Schwachen und Schwächsten kein Lebensrecht zustehe.

Barbies Karriere begann damit, daß er ehemalige Kameraden aus der katholischen Jugend bespitzelte, und mit zweiundzwanzig Jahren wurde er Mitglied einer Sicherheitsabteilung der SS. Es war für ihn offensichtlich nicht schwer, am einen Tag für die Schwachen einzutreten und sie am nächsten Tag zu verhöhnen. Hinter der Fähigkeit, die Identität zu wechseln, steht nicht nur das Fehlen eines authentischen Selbst, sonden beides wirkt zusammen bei der Entstehung von Destruktivität. Man kann sich der Nächstenliebe widmen 'und' hassen. Denn den Regeln einer bestimmten sozialen Gruppe zu gehorchen, kann einfach nur dem Bedürfnis entspringen, an der Macht teilzuhaben. Sich den christlichen Regeln zu unterwerfen, kann wie im Fall Barbie, einzig davon motiviert sein, Hilflosigkeit zu überwinden, und braucht nicht dem Bedürfnis entstammen, mit ihr zu leben. Und dafür haßt ein Mensch sich selbst.


Aus:
Arno Gruen, Der Wahnsinn der Normalität. Realismus als Krankheit: eine Theorie der menschlichen Destruktivität, Deutscher Taschenbuch Verlag, Oktober 2004

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Astrid Haarland M.A. Politologin - Soziale Kunst- und Ausstellungsmacherin - Commander/ISLA - a.haarland(at)googlemail.com - Choose safe communication ... ;-)

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